Politische Aufklärung. Halle als Ort der Unruhe im späten 18. Jahrhundert

Politische Aufklärung. Halle als Ort der Unruhe im späten 18. Jahrhundert

Veranstalter
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), Halle (Saale), Elisabeth Décultot, Martin Mulsow, Dirk Sangmeister
Veranstaltungsort
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Aufklärung
PLZ
06110
Ort
Halle
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.05.2024 - 24.05.2024
Deadline
31.01.2024
Von
Franziska Lachmann, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Tagung 23.–24. Mai 2024
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA)

Politische Aufklärung. Halle als Ort der Unruhe im späten 18. Jahrhundert

Die Schlüsselszene zur Erhellung der Lage in Halle im Zeitalter der Spätaufklärung ereignete sich am29. Mai 1794, als eine große Menge aufgebrachter Studenten fast eine halbe Stunde lang Mauer- und Ziegelsteine in die Fenster der beiden Zimmer im Gasthof »Zum goldenen Löwen« warf, in denen Hermann Daniel Hermes und Gottlob Friedrich Hillmer logierten, die aus Berlin entsandt worden waren, um zu untersuchen, ob in Halle dem restrikten Preußischen Religionsedikt die gehörige Beachtung geschenkt werde. Die Studenten waren nicht nur empört über die Gegenwart der beiden Gesinnungsschnüffler, sondern auch über das kurz zuvor ergangene Verbot des Zentralorgans der Berliner Aufklärung, Friedrich Nicolais Neuer allgemeiner deutscher Bibliothek. »Es sterbe die Inquisition! Es lebe die Berliner Bibliothek!«, waren die Schlachtrufe der aufgebrachten Studenten.

Halle befand sich im Zeitalter der Französischen Revolution in einer spannungsgeladenen Mittelposition zwischen zwei ganz gegensätzlichen Polen. Auf der einen Seite stand die Regierung in Berlin unter Friedrich Wilhelm II., der insbesondere unter dem Einfluss seines Ministers Johann Christoph von Wöllner stand. Auf der anderen Seite stand Paris mit den weltbewegenden Ereignissen und Ideen der Französischen Revolution, die u.a. von Johann Friedrich Reichardt mit Sympathie geschildert wurden, der wiederholt (1785-1787, 1792 und 1802-1803) für längere Zeit nach Frankreichreiste, 1793 seine Vertrauten Briefe über Frankreichpublizierte, 1795 die Monatsschrift Frankreich, »Aus den Briefen deutscher Männer in Paris« (Untertitel), begründete, später Vertraute Briefe aus Paris(1803) und schließlich den Bestseller Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate (1804) veröffentlichte. Wegen seiner offen artikulierten Revolutionsbegeisterung wurde Reichardt 1794 in Berlin als Hofkapellmeister entlassen – und flüchtete sich daraufhin eben nach Halle, das bis zu seinem Tode der Mittelpunkt seines Lebens blieb.

Reichardt war gewiß der prominenteste Sympathisant der Französischen Revolution an der Saale, aber er war keineswegs alleine. Während an der Universität ganz überwiegend Professoren lehrten, die zwar dem Rationalismus zuneigten, aber zumeist gemäßigte Gefolgsleute der Aufklärung waren (Johann Salomo Semler, Johann August Nösselt, Ludwig Heinrich Jakob, Johann Reinhold Forster, Friedrich August Wolf, Johann August Eberhard u.a.m.), formierte sich hier zugleich eine Gruppe von radikalen, zum Teil verfemten Köpfen, die sich an der Universität nicht etablieren konnten, dennoch in der Stadt blieben: Carl Friedrich Bahrdt und Friedrich Christian Laukhard sind die beiden namhaftesten Vertreter dieser losen Gruppe, aber neben diesen bis heute bekannten ‚Spätaufklärern‘ gab es an der Saale gleichzeitig weitere Zeitgenossen, die fast vollkommen vergessen, jedenfalls von der Forschung vernachlässigt worden sind, darunter der peregrinierende Skribent Christian Wilhelm Kindleben und als hintergründige Schlüsselfigur der Verleger und Leihbibliothekar Franz Heinrich Bispink, der nicht nur mit Bahrdt wie Laukhard befreundet war, sondern diesen bei ihrer Schriftstellerei zur Hand ging und auch selbst Bücher verfaßte, ohne daß man bis heute verläßlich wüßte, welche Werke er übersetzt und geschrieben hat (darunter u.a. die Philosophische Abendstunden vom Koche des Königes von Preussen. Zur Elektrisirung fanatischer Köpfe). Zu diesen Personen gesellten sich zeitweise Aventurier der Spätaufklärung wie Carl Georg Weiße (gen. Albus), Skribenten wie Friedrich Samuel Mursinna, auch Hochstapler wie Carl Grosse alias Graf Edouard Romeo Vargas und Franz Matthäus Grossinger alias Franz Rudolph von Grossinger. Diese nicht notwendigerweise befreundeten, aber allesamt miteinander bekannten und zum Teil phasenweise durch gemeinsame Vorhaben verbundenen Personen machten Halle im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem Ort der latenten Unruhe, in dem viele Facetten der Spätaufklärung aufblitzten. Spätere Radikale wie Karl Spazier oder Christian Ludwig Paalzow erhielten dort während der Studienzeit ihre Prägung; ja Paalzow vermochte es, seinen atheistischen Hierokles trotz Zensur bei Gebauer in Halle drucken zu lassen.

1794 hatte sich sogar ein Teil der Professorenschaft radikalisiert und politisiert. Hatte schon Eberhards Neue Apologie des Sokrates von 1772 durch ihre subversiven Implikationen großen Anklang unter Radikalen gefunden, so ging der Kantianer Ludwig Heinrich Jakob so weit, daß er anonym einen Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsamserscheinen ließ, in dem er ein Widerstandsrecht gegenüber dem Staat forderte, und er verließ die Philosophie, um sich der politischen Ökonomie zuzuwenden. Die Nähe zum Philanthropin in Dessau hatte das Ihre getan, wo man weder auf Konfession noch auf Stand achtete. Ein radikalisierter junger Dessauer Lehrer wie Johann Christian Schmohl wechselt von dort 1779 als Jurastudent an die Universität Halle, wo er auf Carl Friedrich Bahrdt stößt und von wo aus er Schmähschriften verfaßt und den Fürsten direkt angreift– bevor er flieht und schließlich verbittert nach Amerika auswandert.

Die preußische Landesregierung in Berlin wie die Häupter von Stadt und Universität in Halle versuchten wiederholt, die unruhigen Köpfe an der Saale zu disziplinieren, etwa indem sie dem Magister Kindleben zur unerwünschten Person erklärten und dauerhaft aus der Stadt verwiesen, auch, indem sie Leute wie Bahrdt und Laukhard von der Universität fernhielten. Es ist bezeichnend, dass zwei Zentralfiguren der Hallenser Spätaufklärung nicht in der Stadt, sondern vor den Toren der Stadt wohnten: Johann Friedrich Reichardt auf seinem Gut in Giebichenstein und Carl Friedrich Bahrdt auf seinem Weinbergin Nietleben. Beide Orte waren bekannte Treffpunkte für Literaten, Gelehrte und Musiker von Nah und Fern. Wer sich hier aufhielt, konnte die Kontrollen an den Stadttoren umgehen, und die Grenze zu Sachsen lag nahe, weswegen beide Güter immer wieder auch als Zufluchtsorte dienten, etwa für Karl Philipp Moritz, der sich 1784 wochenlang in einem Heuschober bei Bahrdt verkroch.

Dass das subversive Potential an der Saale groß war, wird besonders manifest durch die Tatsache, dass Halle der Wurzelgrund der wichtigsten semi-arkanen Studentenorden des ausgehenden 18. Jahrhunderts gewesen ist: Hier wurden 1774 der clandestine Unitisten-Orden und 1777 der gleichfalls im Verborgenen wirkende Constantisten-Orden gegründet, auch die geheimbündlerischen Amicisten (darunter Friedrich Heinrich Diez und Ludwig August Unzer) waren hier stark vertreten. Diese drei in Halle verwurzelten Orden waren die Verbindungen, die sich am stärksten im Alten Reichverbreiteten, die wegen ihrer clandestinen Strukturen den Obrigkeiten höchst suspekt waren und die dann infolge ihrer partiellen Politisierung im Zeitalter der Französischen Revolution fast überallverfolgt, zerschlagen und verboten wurden.

Vermehrt und verstärkt wurde das in Halle endemische Geheimbundwesen durch den 1784 durch Franz Matthäus Grossinger an der Saale gegründeten »Rosenorden« und die ab 1786 sich formierende, groß angelegte »Deutsche Union« von Carl Friedrich Bahrdt. Nimmt man die Mitglieder der örtlichen Freimaurerloge »Zu den drei Degen«, über deren Mitglieder (darunter der revolutionsbegeisterte Ferdinand Beneke, dessen 56bändigen Tagebücher seit 2001 sukzessive ediert werden) und über deren Profil und Wirken wir dank des opus magnum von Karlheinz Gerlach über Die Freimaurer im alten Preußengenaue Kenntnis haben, hinzu, erkennt man, dass es in Halle im ausgehenden 18. Jahrhundertbeständig eine fluktuierende Menge von mindestens 200 Personen, fast ausnahmslos Akademiker ,gegeben hat, die sich mehrheitlich den Zielen der Spätaufklärung verschrieben hatten, die im Verborgenen wirkten und die nicht nur lokal, sondern regional wie national, z.T. auch international vernetzt waren.

Zu den vornehmsten Zielen der projektierten Tagung gehören vor allem die folgenden vier Punkte:

1. Angestrebt wird, nicht nur die prominenten Köpfe wie Bahrdt, Reichardt und Laukhard, die bereits Gegenstand von Monographien gewesen sind, neu in den Blick zu nehmen, sondern vermehrt auch das Wirken derjenigen Personen aus dem Hinter- und Untergrund zu beachten, über die es bis daton och nicht einmal Aufsätze, geschweige denn Studien gibt, allen voran Bispink und Kindleben. Auch sollen die Verbindungen zwischen „gemäßigter“ Hallenser Spätaufklärung und „radikalem“ Rand im Umfeld der Universität, des Dessauer Philanthropins sowie in der Studentenschaft thematisiert werden.

2. Verstärkte Beachtung soll den Verbindungen von Hallenser Spätaufklärern nach Frankreichgeschenkt werden. Welche Netzwerke lassen sich ausmachen, welche Korrespondenzstränge warenwichtig, welche Kanäle des Ideentransfers lassen sich identifizieren? Welche Rolle spielten die diversen Geheimbünde? Gab es Übersetzungen, Reisen, Allianzen?

3. Von großem Interesse ist die Stellung Halles innerhalb der weiteren Preußischen Radikalaufklärung. Welche Beziehungen waren zwischen Halle und Berlin gespannt? Wie interagierten Professoren, Verleger, Freimaurer und unruhige Köpfe mit der Szenerie in der Hauptstadt (von Teller bis Riem, von Schulz bis Buchholz, von Damm bis Paalzow, von Nencke bis Knüppeln)?

4. Ausdrücklich erwünscht ist eine kritische Auseinandersetzung mit der älteren, vornehmlich ostdeutschen Forschungsliteratur zur Hallenser Spätaufklärung. Es waren nach 1945 mehrheitlich Historiker und Philologen aus der DDR, die Arbeiten, auch Editionen, zur mitteldeutschen Geistesgeschichte im Zeitalter der (Spät-)Aufklärung vorgelegt haben, die vielfach wegweisend waren auch für westdeutsche Forscher in den 1960er und 1970er Jahren. Allerdings sind viele der damaligen Veröffentlichungen aus Ostdeutschland von der Staatsraison erkennbar diktiert worden. Bei der angestrengten Suche nach antifeudalen Vorläufern, nach vorbildlichen Früh- und Linksdemokraten wurden nicht selten Widersprüche ignoriert oder nivelliert, waren Vereinfachungen gängiger als Differenzierungen; zudem waren viele Quellen aufgrund der deutsch-deutschen Teilung nicht leichtzugänglich. Infolge der seit zwei Jahrzehnten allerorts forcierten Digitalisierung von Büchern, Periodika und Quellen sowie der Einspeisung von Katalogen, Findbüchern und Karteien in Datenbanken gibt es mittlerweile eine merklich breitere Basis für neue weiterführende Forschungen mit differenzierten Herangehens- und Betrachtungsweisen.

5. Einzelne Untersuchungen bzw. Schlaglichter auf Akteure oder Konstellationen der radikalen Aufklärung außerhalb des Hallenser Raumes sind durchaus erwünscht.

Wir würden uns freuen, wenn Sie an dieser Tagung teilnehmen möchten.

Wenn dies der Fall ist, dann senden Sie bitte bis zum 31.01.2024 ein ca. einseitiges Exposé an die drei folgenden Adressen:
elisabeth.decultot@germanistik.uni-halle.de
martin.mulsow@uni-erfurt.de
dirk.sangmeister@uni-erfurt.de

Kontakt

elisabeth.decultot(at)germanistik.uni-halle.de
martin.mulsow(at)uni-erfurt.de
dirk.sangmeister(at)uni-erfurt.de

https://www.izea.uni-halle.de/infothek/aktuelle-meldungen/details/call_papers_decultot_unruhe_18_jahrhundert.html
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